Berlin feiert mit „Wahnsinn“ die Premiere des ersten Party-Schlager-Musicals

Cast von Wahnsinn-Das Musical (c) Iris Hamann

Der erste Gedanke, der sicherlich aufkommt ist: Schon wieder ein „Greatest Hits“-Musical mit handgestrickter Story. Den Machern fällt auch nichts Neues mehr ein. Dann der zweite Gedanke: Wolfgang Petry und Musical, das passt noch weniger zusammen. Der Künstler, der zu seiner aktiven Zeit mit seinen Konzerten ganze Fußballstadien füllte und seinen Hits Tausende zum Tanzen und Partymachen animierte, soll nun mit seinen Songs als Vorlage für ein Musical dienen? Schwer vorstellbar… eigentlich.

Doch die Sache einfach nur schwarz und weiß zu betrachten ist definitiv der falsch Weg. Was sich zu Anfang als völlig konträr zu geben scheint, ist alles andere als das. Warum also nicht das weltweit erste Party-Musical ins Leben rufen? In enger Zusammenarbeit mit Wolfgang Petry und quasi als sein Geschenk zum 65. Geburtstag kreierten Gil Mehmert (Regie), Heiko Wohlgemuth (Texte) und Martin Lingnau (Musik) etwas ganz Neues für den Musical Markt.

Die Auswahl der Stadt, in der die Weltpremiere stattfinden sollte, fiel auch nicht zufällig auf Duisburg. Natürlich bietet sich die Metropole aus wirtschaftlicher Sicht an, weil es ein großes Einzugsgebiet hat, erklärt Martin Lingnau als Creative Producer, Autor und Arrangeur. Außerdem gilt das Theater am Marientor mit seinen knapp 1500 Sitzplätzen als eines der schönsten Musiktheater Deutschlands. Und nicht zuletzt natürlich, weil die Personen der Geschichte genau in ins Herz des Ruhrgebietes passen. Es sind Menschen wie du und ich von denen im Musical erzählt wird. „Normale Durchschnittsbürger“, die ganz weltliche Probleme, Sorgen und Träume haben wie jeder andere auch. Dem Zuschauer fällt es einfach leicht sich mit einer oder mehreren Personen zu identifizieren. Vier Paare, alle auf irgendeine Weise mit einander verbunden, die nach einigen Irrungen, Wirrungen, Streit, Versöhnung und Missverständnissen doch noch zueinander und damit zu ihrem persönlichen Glück finden.

Ein bedeutungsvolles Freundschaftsband, ein abgefackeltes Dixi-Klo, die Bar auf dem Schrottplatz „Whiskey Bill“, ein kleines Stück Papier mit einer Telefonnummer, das legendäre Holzfällerfest HoChiKaKaHo auf Bahia des Sol, ein vermeintlicher Flugzeugabsturz, 20 Tonnen Scampi, eine ungewöhnliche Gruppentherapie, ein dänischer Polizist, ein verführerischer Yoga-Lehrer, ein klappriger VW-Käfer, eine wertvolle Gitarre und ein großes Geheimnis, spielen eine nicht gerade unbedeutende Rolle.

Die Ruhrpott-Familie Karsten (Detlef Leistenschneider) und Gabi (Jessica Kessler), deren Sohn Tobi (Thomas Hohler) den Traum hat, als Musiker sein Geld zu verdienen, obgleich sein Vater, selbst daran gescheitert, ihm dringend davon abrät. Tobi wiederum ist locker liiert mit Gianna (Dorina Garuci), die er bei einem Gig kennengelernt hat. Das Ehepaar Peter (Enrico de Pieri) und Sabine (Vera Bolten), die sich nach 20 Jahren Ehe auseinander gelebt haben, weil er nur für die Firma lebt – sei es auch mit der besten Absicht seiner Frau etwas bieten zu können. Außerdem auch noch Wolf der beste Freund von Karsten, der eine schlecht laufende Bar betreibt und noch immer seiner in Spanien zurückgelassenen Jugendliebe Jessica (Carina Sandhaus) nachtrauert.

Jessica Kessler – Wahnsinn-Das Musical (c) Iris Hamann

Was „Wahnsinn“ zudem auszeichnet sind nicht nur die geschickt aus dem riesengroßen Repertoire von Wolfgang Petry ausgewählten Hits, sondern auch an der ordentlichen Portion Humor mit dem die ganze Story gewürzt ist. Mehr als einmal kann man einfach nicht anders als Schmunzeln. Das liegt vor allem an der absolut großartigen und zudem passenden Besetzung. Allein mit Jessica Kessler und Carina Sandhaus hat man zwei „echte Ruhrpott-Pflanzen“ in die Produktion geholt, wo man ihnen die Chance gibt, sich in ihrem Heimatdialekt so richtig auszutoben, wovon sie auch reichlich Gebrauch machen. Detlef Leistenschneider, dem als gebürtiger Saarländer die Sprüche anfangs sicher auch sehr ungewohnt daherkamen, hat sich grandios angepasst und wenn er schimpfend „..der muss sich im Kopf mal helfen lassen…“ oder „da krieg‘ ich doch die Pimpernellen…“ über die Bühne läuft, entlockt er, obwohl diese Ausdrucksweise im Berliner Raum sicher nicht so geläufig ist, den Zuschauern im Theater am Potsdamer Platz den einen oder anderen Schmunzler.

Jessica Kessler ist als „Gabi“ grandios besetzt. Sie konnte man bereits in zahlreichen Produktionen, wie zum Beispiel 2001 als Cover Constanze Weber und Nannerl Mozart, 2003 als Sarah in Tanz der Vampire sowie u. a. als Scaramouche auf der Tour von „We will rock you“ erleben. Zuletzt führte sie ihr Weg nach Wien, wo sie ebenfalls bei der Welturaufführung von „Schikaneder“ mitwirkte, um nur einige Stationen zu nennen. Die Darstellung der selbstsicheren Gabi mit großem Herz und großer Klappe fällt ihr sicherlich als gebürtige Duisburgerin besonders leicht. Wird die Mentalität der Ruhrpottler doch gern so liebevoll beschrieben. Sie besticht durch ihr komödiantisches Talent und die frechen Sprüche, die der Show noch einmal eine besondere Würze verleihen.

Thomas Hohler – Wahnsinn – Das Musical (c) Iris Hamann

An ihrer Seite ihr Mann Karsten (Detlef Leistenschneider), der in den letzten Jahren in einigen großen Produktionen zu sehen war. So unter anderem als „Rocky“ im gleichnamigen Musical oder als „Richard Lubanski“ im „Wunder von Bern“, wo Gil Mehmert ebenfalls Regie führte. 2017 ging Leistenschneider dann als „Axel Staudach“ mit auf „Ich war noch niemals in New York“-Tour. Seine Darstellung des mangels Erfolg im Showbusiness zum Realisten gewordenen Träumer, der seinen Sohn vor den Fehlern bewahren möchte, die er selbst gemacht hat, ist absolut sehenswert.

Auf keinen Fall unerwähnt sollte Thomas Hohler bleiben, der als Karsten und Gabis Sohn Tobi dennoch versucht an seinem Traum festzuhalten. Hohler könnte man fast trotz seines jungen Alters schon als „alten Hasen“ bezeichnen; stand er doch schon als 11-jähriger in genau dem Theater in Duisburg wo die Weltpremiere von „Wahnsinn!“ stattfand, in einem völlig anderen Stück, nämlich Les Misérables, auf der Bühne. Auf der Tour-Produktion von Elisabeth mimte er unter anderem den Kronprinzen Rudolf in vielen Städten im In- und Ausland, um nur einige wenige Stationen seiner Karriere zu nennen. Zuletzt konnte man ihn als „Esel“ bei Shrek und als „Frank Crawley“ in Rebecca in Tecklenburg bewundern. Von seiner Vielseitigkeit kann man sich nun erneut überzeugen. Ihm liegen nicht nur die sanften oder zornigen Töne, sondern auch die rockigen.

Enrico de Pieri, zuletzt als Dschinni in der großen Disney Produktion Aladdin in der neuen Flora in Hamburg zu sehen, zeigt bei den nicht gerade typischen Musicalsongs seine stimmlichen Möglichkeiten. In Opernhäusern ebenso zu Hause wie auf der Musicalbühne, nimmt man ihm die Rolle sofort ab. Dabei strahlt er soviel Gefühl und Freude aus, dass es schwerfällt einerseits nicht aufzuspringen und mitzutanzen und andererseits ihn tröstend in den Arm zu nehmen, als er bemerkt, dass seine Ehe, nicht zuletzt durch seine eigene Schuld, offensichtlich kurz vor dem Aus steht.

Vera Bolten, als seine Frau Sabine, kann ebenfalls bereits auf eine ansehnliche Karriere zurückblicken. Sie gehörte zur Originalbesetzung von „Disneys Der Glöckner von Notre Dame“, das gleichfalls im Theater am Potsdamer Platz gezeigt wurde, ebenso wie zur Premierenbesetzung vom „Wunder von Bern“ im Theater an der Elbe in Hamburg oder vielen namhaften Rollen in kleineren Theatern im oder um das Ruhrgebiet. Ihre Interpretation der Ehefrau eines Workaholics, die zwischen Verletzbarkeit und Arroganz hin- und herwankt, ist großartig. Ihre zeitweise ins etwas schrille abschweifende Stimme unterstreicht dies noch zusätzlich.

Noch recht frisch im Geschäft ist die gebürtige Albanerin Dorina Garuci alias Gianna. Sie schloss ihre Ausbildung erst im Jahr 2016 an der Privatuniversität Wien mit Auszeichnung ab. Mit ihrer leicht angerauten Stimme wird man stellenweise an die „echte“ Gianna, Gianna Nannini, erinnert. Noch passender ist es da, dass sie auch noch ein Mädchen mit italienischen Wurzeln mimt. In

Band, Ensemble, Thomas Hohler, Enrico de Pieri – Wahnsinn-Das Musical (c) Iris Hamann

der Sommerproduktion der Bühne Baden (bei Wien) wird sie neben Mark Seibert, der die Rolle des Clyde Barrow übernimmt, als Bonnie Parker in Frank Wildhorns Bonnie & Clyde zu sehen sein.

Mischa Mang scheint die Rolle des Wolf auf den Leib geschrieben zu sein, zumal er nicht nur auf den Musical-Bühnen zu Hause ist, sondern auch schon einige Solo-CDs auf den Markt gebracht hat. Aus diesem Grund fällt ihm die Symbiose zwischen Rock und Musical sicherlich besonders leicht. Carina Sandhaus, die die seit mehr als 20 Jahren „verschollene“ große Liebe von Wolf darstellt, ist neben der aktuellen Wahnsinn-Tour noch bei verschiedenen Parallel-Engagements wie zurzeit in Bielefeld in „Das Molekül“ und im Hagener Theater „Von Babelsberg nach Hollywood“ tätig. Auch als Sprecherin für Werbung und Hör- und Lernspielen ist sie gefragt.

Überhaupt wird in dem Stück viel auf schauspielerische Qualitäten gesetzt, trotzdem der Gesang keinesfalls zu kurz kommt. Die Musik auf einfache Party-Hits zu reduzieren wäre ganz sicher falsch. Zwar überwiegen die flotten Klänge, die die Geschichte somit auch am Leben erhalten, jedoch finden auch die ruhigen Momente ihren Platz. Genau dieses Gleichgewicht scheint es, was den Zuschauer in seinen Bann zieht. In der Normalität der Figuren findet sich das Publikum wieder, kann sich mit ihnen identifizieren. Das Ganze, begleitet von den, teils an die Story angepassten Songs und Texten, ist offensichtlich das Geheimnis des Erfolges. Es verleiht dem Musical eine Kurzweiligkeit und erreicht genau das was es soll: zu unterhalten – sehr gut zu unterhalten.

Dorina Garuci – Wahnsinn-Das Musical (c) Iris Hamann

Die zeitweise bewusst übertrieben bunten Kostüme lockern die gesamte Story immer wieder auf und steuern auch noch einmal zur guten Stimmung des Abends bei. Sei es die Mariachi-Band, die Karsten im Traum erscheint oder Majas Blümchenwiese, deren Darstellung der heilen Welt abrupt endet: der Einfallsreichtum, immer passend zu den Songs, ist wunderbar leicht und unterhaltsam. Das Bühnenbild selbst, das durch seine einfache Genialität besticht, bedarf keiner Drehbühne, sondern nur ein wenig geschickt durch das Ensemble eingesetzte Muskelkraft um eine neue Kulisse entstehen zu lassen. So wird aus einem LKW-Führerhaus ganz plötzlich eine Bar oder eine Tafel mit Abflugzeiten. Die Band ist auf einem LKW-Anhänger platziert und somit durchweg präsent. Trotzdem steht sie soweit im Hintergrund, dass sie den bildlichen Ablauf in keinster Weise stört.

Auch wenn Wolfgang Petry selbst bei diesem Musical nicht mit auf der Bühne steht, wird seine Gegenwärtigkeit überall hineingestreut. Die schwarz.-weiß-karierten Hemden – es dürfen zwischendurch auch einmal Kleider sein – fehlen genauso wenig wie die, eine zeitlang zum Markenzeichen gewordenen, bunten Freundschaftsbänder. Somit ist „Wolle Petry“ nicht nur musikalisch auf der Bühne vertreten, sondern ist ein imaginärer Teil des Ganzen.

Das Berliner Publikum feierte die Premiere der Riesenfete jedenfalls mit verdienten Standing Ovations. Als Fazit kann man bemerken, dass das Kreativteam in diesem Fall ganze und sehr gute Arbeit geleistet hat. Spätestens beim Abfeiern am Ende des 2. Aktes, wenn es doch noch das von allen erwartete Happy End für alle gibt, sollte es auch den größten Skeptiker überzeugt haben, dass das Experiment das erste Party-Schlager-Musical der Welt zu erschaffen, dank der großartigen Arbeit aller Beteiligten, absolut gelungen ist.

Tickets und weitere Termine findet ihr hier: www.petry-musical.de