Verschenktes Potenzial in der Pariser Oper – „Das Phantom der Oper“ überzeugt nicht wirklich

Neuinszenierungen sind in der Theaterwelt wichtig und eröffnen dem Besucher immer wieder neue Blickwinkel auf mitunter den selben Stoff. Manchmal gibt es aber auch vollständige Eigenproduktionen, die sich von bisherigen Werken abheben und auch eine gänzlich eigene Musik verwenden. Natürlich muss sich so ein Musical dann auch immer mit den Vorgängern messen, gerade wenn ein Jahrzehnte alter Stoff verarbeitet wird.

Seit Jahren tourt nun schon “Das Phantom der Oper” durch die Theater dieser Welt und wer nun gleich an das berühmte Phantom von Andrew Lloyd Webber denkt, liegt hier falsch. Denn das Musical stammt hier aus der Feder von Jochen Sautter und Deborah Sasson, die nicht nur als kreative Köpfe hinter diesem Werk stehen, sondern auch als Darsteller auf der Bühne. Dass das weltbekannte “Phantom der Oper“ von Sir Andrew Lloyd Webber stammt, ist durchaus nicht jedem bekannt und ein Detail, was einem Gelegenheitsbesucher nicht zwingend präsent ist. Deswegen wäre es ratsam, wenn man dieses Detail vorher kommuniziert und den Zuschauern “reinen Wein” einschänkt, denn soetwas bestimmt die Erwartungshaltung, mit der man ins Theater geht.

Eine Neubearbeitung oder -inszenierung muss nicht zwingend schlechter sein, als eine vorherige Produktion. Auch vor dem bekannten Musical von Andrew Lloyd Webber gab es bereits musikalische Verarbeitungen des Romans von Gaston Leroux, der zwischen 1909 und 1910 in der Zeitung Le Gaulois veröffentlicht und unzählige Male verfilmt wurde. Dennoch entscheidet die Erwartungshaltung über Erfolg oder Misserfolg einer Produktion, denn niemand bekommt gerne das verwehrt, was er erwartet – davon handelt immerhin auch “Das Phantom der Oper”. Hier erwartet Erik, also das “Phantom”, dass die junge Sopranistin Christine ihn liebt, doch das tut sie nicht.

Dabei hätte diese neue Bearbeitung des Stoffes durchaus Potenzial, macht sich es sich aber bei der Umsetzung eher schwieriger als nötig. Zunächst sollte aber geklärt werden, worum es in dieser Bearbeitung von “Das Phantom der Oper” geht.

Das Stück beginnt Jahre nach der eigentlichen Handlung, als der ehemalige Operndirektor Richard an den Ort des Geschehens zurückkehrt und ein wenig über die damalige Zeit sinniert. Die Ouvertüre erklingt, auf der Bühne verändert sich die animierte Projektion des Opernhauses rückwärtig und gibt die Handlung im Innern preis. Dort feiern die neuen Operndirektoren Moncharmin und Richard ihren Einstand in geselliger Runde. In der Menge ist auch Christine Daaé, die zwar eine gute Stimme, aber kaum Erfahrung hat. Plötzlich donnert und blitzt es in der Oper, ein aufgeregtes Balettmädchen rennt in die Feier, stottert etwas vor sich hin und Madame Sorelli verkündet, dass der Star der Oper – La Carlotta – heute Abend nicht singen kann. Gut, nun kann man sich fragen, ob La Carlotta bei dem plötzlichen Gewitter in der Oper vom Blitz getroffen wurde, doch Madame Sorelli hat gleich eine viel bessere Idee: Christine Daaé, das Chormädchen ohne nennenswerte Erfahrung, soll singen. Und das tut sie, überzeugt die Menge und wird prompt nach ihrem Auftritt von Raoul, Comte de Chagny, überrascht. Die ganze Aufregung war der kleinen Christine aber zu viel und sie fällt auch sogleich in Ohnmacht, nur um dann von der Bühne getragen zu werden. Währenddessen verdächtigt die verbleibende Menge das mysteriöse Phantom der Oper, den Bühnenmeister Buquet getötet zu haben, denn dieser wurde erhängt in der Unterbühne aufgefunden. Die Oper zu evakuieren und die genauen Umstände zu klären, wäre aber wirklich zu weit hergeholt und deswegen beschließen die Operndirektoren unangenehme Fakten einfach zu ignorieren, selbst als sie später mit zweifelhaften Forderungen konfrontiert werden. Das Opernphantom verlangt nämlich die Loge Fünf – die beste Loge im Haus – dauerhaft für ihn reserviert zu lassen, außerdem verlangt er 20.000  Francs Jahresgehalt. Ziemlich hoher Lebensstandard für jemanden, der die meiste Zeit unter Tage in feucht-kuschliger Kellerlage seine Freizeit verbringt. Raoul möchte in der Zwischenzeit nach Christine sehen, darf aber auf Geheiß von Madame Sorelli nicht in ihre Garderobe. Und auch die Balletttänzerinnen, die immer im Rudel auftauchen, lungern vor Christines Garderobe herum, als sie bemerken, dass sich “der Perser, der immer böse guckt” auch dort herumtreibt. Christine ist derzeit in ihrer Garderobe wieder zu Bewusstsein gekommen und erinnert sich nicht einmal mehr daran, dass sie soeben für alle Gäste gesungen hat. Sie stellt aber fest, dass sie alles was sie kann, einem geheimnisvollen Lehrmeister zu verdanken hat, den sie für den Engel der Musik hält, von dem sie aber bisher nur die Stimme kennt. Bald erkennt auch sie, dass ihr Engel der Musik das Phantom der Oper ist, der sie durch einen Geheimgang hinter dem Spiegel erwartet und sie – vermutlich durch weitere geheime Gänge – auf den weit entfernten Friedhof führt. Zwischendurch hat auch Raoul mitbekommen, dass Christine mit einer männlichen Stimme in ihrer Garderobe spricht und von dieser aufgefordert wurde, zum Friedhof zu kommen. Also nimmt Raoul die Beine in die Hand, eilt zum Friedhof und wird dort aber selbst vom Phantom überrascht und hinterrücks einfach aus dem Weg geräumt. Später beschließen nun auch die Operndirektoren, sich nicht länger vom Phantom auf der Nase herumtanzen zu lassen. Dabei ist es auch nebensächlich, dass dieses Phantom nach wie vor für einen toten Bühnenmeister verantwortlich zu sein scheint. Sie besetzen Carlotta als Margarethe in der Oper “Faust”. Die wird vor ihrem Auftritt vom Phantom aber auf unbekannte Drogen gesetzt, die sie nicht nur wild beim Singen zucken lassen, sondern auch ihren Gesang in den hohen Tönen zu einem herzhaften Rülpsen verkommen lassen. Christine gesteht auf Drängen Raouls auch, dass ihr Engel der Musik ein einfacher Mann namens Erik ist, der sie im Gesang unterrichtet und sie sich deswegen diesem verpflichtet fühlt. Dennoch beschließen Raoul und Christine nun, sich zu lieben – ganz zum Missfallen des Phantoms. Beim Maskenball entführt dieser Christine und lässt den Lüster – eine animierte Projektion auf der Bühnenrückwand – in den Opernsaal stürzen.

Nun erkennen auch die Operndirektoren, dass sie etwas gegen das Phantom unternehmen müssen und schalten endlich die Polizei ein. Ein toter Bühnenmeister ist ja zu verschmerzen, kein Anlass zur Panik. Aber ein Lüster? Da muss sofort die Gendarmerie von Paris anrücken. Das ganze Opernpersonal – die Direktoren, Carlotta, Madame Sorelli, die Ballettänzerinnen, Polizisten und Bühnenpersonal – rücken in die Tiefen der Oper vor. Währenddessen erkennt auch Raoul, dass der “Perser” mit den Geschehnissen rund um Christine und Erik zu tun hat und wird von diesem über die genauen Hintergründe aufgeklärt. Das Phantom war nämlich einst ein Agent in Persien, was dem Schah aber irgendwann missfiel und der Perser, der in Wahrheit Nadir Khan heißt, Erik deswegen aus Persien nach Frankreich schmuggelte. Gemeinsam machen auch die beiden sich auf den Weg in den Untergrund der Oper, da Nadir Khan immerhin den Weg kennt. Christine fungiert in dem Kellerverlies des Phantoms derweil als dessen Hauptinspiration und wird von diesem gezwungen zu singen. Einerseits fühlt sie sich dabei zum Phantom hingezogen, möchte aber auch lieber gehen. Dann tanzt und singt sie mit dem Phantom gemeinsam, als dieser ihr einen Brautschleier anlegt. Als sie diesen jedoch im Spiegel sieht, reißt sie diesen erschrocken vom Kopf. Zwischendurch erreichen auch Nadir Khan und Raoul das Kellerverlies, werden jedoch vom Phantom überwältigt und in Handfesseln gelegt. Das Phantom eröffnet nun auch noch, dass er dort unten tonnenweise Sprengstoff bunkert und gewillt ist, die Oper in die Luft zu jagen, wenn Christine nicht einwilligt seine Frau zu werden. Sie fühlt sich mehr denn je zu Raoul hingezogen, möchte dessen Leben retten und willigt deswegen ein, die Frau von Erik zu werden, wenn er nur Raoul und den Perser gehen lässt. Das Phantom geht erst darauf ein, es kommt zum Kuss. Daraufhin hat das Phantom aber doch keine Lust mehr, weil nun auch er erkennt, dass Liebe sich nicht erzwingen lässt. Er lässt Christine, Raoul und den Perser gehen und es wird erst angedeutet, dass das Phantom willens ist, sich selbst das Leben zu nehmen. Es folgt ein Umschwung zur Meute, die den Großteil des zweiten Aktes bisher durch die verwinkelten Katakomben irrt. Als sie erkennen, dass sie sich – oh Wunder – verlaufen haben, kehren sie um und geben die Suche auf. Christine und Raoul kommen trotzdem vor der Meute an der Oberfläche an und beschließen zu heiraten. Das Phantom hingegen bleibt einsam im Kellerverlies zurück.

Es folgt daraufhin noch eine finale Szene, in der Christine nun mit Raoul verheiratet ist und ihre Opernkarriere zugunsten der Ehe an den Nagel hängt. Dennoch willigt sie noch einmal ein, zu singen und kehrt zur Zugabe sogar noch einmal als “Carmen” zurück.

Die Handlung ist durchaus ein großer – wenn nicht sogar der größte – Schwachpunkt der Aufführung. Es werden zu viele nicht nachvollziehbare Entscheidungen getroffen, Spannung will sich auch nicht wirklich bilden. Hinderlich sind dabei auch die wechselhaften Projektionen im zweiten Akt, als immer wieder zwischen den verschiedenen Ebenen der Katakomben hin und her gesprungen wird. Das ist schade, da sowohl die Stimmen der Darsteller nicht wirklich schlecht waren und stellenweise sogar zu beeindrucken wussten. Deborah Sasson hat, auch wenn sie optisch weit entfernt vom jugendlichen Chormädchen Christine ist, eine wirklich angenehme, wenn nicht sogar beeindruckende Stimme, hat jedoch auch einen zu starken Akzent in den Sprechszenen. Jochen Sautter als Raoul hat ebenso eine angenehme Stimme, schafft es aber dank der Inszenierung und der löchrigen Handlung auch nicht, die Figur zu einer weniger unsympathischen Figur werden zu lassen. Axel Olzinger hatte es als Phantom da nicht unbedingt leichter, da er bis zum Schluss keine Rolle darstellen kann, mit der man sich identifizieren kann und das obwohl seine schauspielerische und gesangliche Leistung wirklich mitunter die beste des Abends war – trotz Maske, die das Meiste des Gesichts verdeckte. Ein weiterer Wehrmutstropfen ist da die Figur der La Carlotta, die hier zu einer clownesken Slapstick-Figur verkommt. Die ganze Szene rund um die Arie aus “Faust” wird künstlich in die Länge gezogen und das wiederholte Rülpsen erzeugte dabei höchstens Fremdscham. Auch die beiden Operndirektoren machen es da nicht gerade besser.

Die Musik ist hier eine komplett neue, die in manchen Szenen sogar neue Möglichkeiten öffnet. Ergänzt wird die von Deborah Sasson und Jochen Sautter komponierte Musik dabei von realer Opernmusik Puccini, Gounod, Pergolesi und Verdi. Zur Zugabe wird sogar die Habanera aus der Oper “Carmen” von Bizet dargeboten. Dennoch ist auch die Musik überwiegend trivial und manchmal sogar unglaublich flach, sodass die ohnehin kaum vorhandene Spannung nur noch mehr in den Hintergrund rückt. Beispielsweise “Auf geht’s”, der Titel der gesungen wird, wenn das Opernpersonal beschließt das Phantom zu jagen, ist in einer unglücklichen Taktfolge komponiert worden. Gelungen erscheint hierbei nun die gekürzte, neue Ouvertüre und “Niemals im Leben”.

Das Bühnenbild ist für eine Tourneeproduktion, wie zu erwarten, minimalistisch. Requisiten und Bühneneinrichtungen, die physisch vorhanden sein müssen, werden auf die Bühne gebracht und benutzt. Alles, was gerade nicht benötigt wird, wird auf zwei Projektionsflächen erzeugt. Auf der Bühnenrückwand und hin und wieder, wenn einzelne Elemente im Vordergrund erscheinen sollen, auf einem dünnen Vorhang. Das funktioniert stellenweise sogar, gerade dann wenn Darsteller vor dem Vorhang spielen, auf dem Bilder projiziert werden. Manchmal – gerade im Untergrund der Oper – spielen Darsteller aber auch hinter diesem dünnen Vorhang. Da dann aber auch der Bereich hinter dem Vorhang nicht mit voller Helligkeit ausgeleuchtet werden kann, da man sonst nicht erkennt was auf dem Tuch projiziert wird, erkennt man nur sehr schwer, was hinter dem Tuch passiert. Einzelne Emotionen gehen da schlicht verloren. Und die Projektionen, vor allem wenn sie sich bewegen, sehen dabei nicht einmal immer überzeugend aus. Beim Übergang von Oper zum Friedhof zum Beispiel wird eine Kamerafahrt simuliert, bei der aus der Oper herausgefahren wird, durch dichtes Dornengeäst bis zum Friedhof. Das Geäst ist dabei leider nur sehr schlecht animiert und alles andere als realistisch texturiert. Das erinnert dann eher an ein Computerspiel aus den frühen 2000ern.

Die Kostüme waren dabei ansprechend und der Produktion angemessen, einzig die Perücke von Christine passte einfach nicht zum Rest und wirkte auf Frau Sassons Kopf deplatziert und nicht gut verarbeitet.

Abschließend bleibt zu sagen, dass jeder selbst entscheiden muss, ob er sich auf eine Neuinszenierung oder – bearbeitung einlassen kann und will. Hier jedoch wurde die Produktion auf die falsche Weise beworben, die Erwartungshaltung konnte nicht erfüllt werden. Die Handlung sollte auf dramaturgische Verbesserungsmöglichkeiten untersucht und bearbeitet werden. Denn hier wird trotz frischer Musik und guten Stimmen einfach zu viel Potenzial verschenkt.

Wer sich unbedingt selbst ein Bild machen will, kann Informationen und Termine hier erhalten:

www.3for1-concerts.com