Mehrere Jahre schwang nun der charmante Dschungelbewohner “Tarzan” durch den Saal des Stage Apollo Theaters und wurde Ende letzten Jahres von einer ebenso flugbegeisterten Disney-Kollegin beerbt: Mary Poppins. Während also der ganze Dschungel – mitsamt Affen, übergroßen Schmetterlingen und britischen Forschern – nach Oberhausen umsiedelte, zog das charmante Kindermädchen und die Kinder aus dem Kirschbaumweg im Stage Apollo Theater in Stuttgart ein.
Es ist nicht verwunderlich, dass ein Disney-Musical auf ein anderes Disney-Musical folgt, wo doch gerade in Deutschland Musicals aus diesem Hause eine sichere Nummer sind und – vielleicht auch wegen alter Kindheitserinnerungen – Leute eher ins Theater zieht, als ein Musical über die erste gewonnene Fußball-WM von Deutschland oder einen aufstrebenden Boxer aus Philadelphia. Aber – und das ist dann doch die Überraschung – Mary Poppins sticht hier angenehm aus den doch eher ähnlich angelegten Disney-Musicals heraus.
Doch von vorne: Mary Poppins ist eine Figur, die von der Kinderbuchautorin P. L. Travers in mehreren Büchern liebevoll gezeichnet wurde. Viele Jahre bemühte sich seinerzeit Walt Disney persönlich darum, die Filmrechte zu bekommen und erhielt sie letztendlich auch von der Autorin, die sogar ein Mitspracherechte an der Produktion erhielt und zwischenzeitlich sogar die Farbe Rot und sämtliche Zeichentrickelemente aus dem Film verbannen wollte. Die Geschichte rund um die Produktion von Mary Poppins wurde im Film “Saving Mr. Banks” genauestens geschildert. 1964 – vor über 50 Jahren – feierte der Film “Mary Poppins” dann seine Premiere mit Julie Andrews in der Titelrolle und Dick van Dyke in der Rolle des Bert. Noch vor dem Tod der Kinderbuchautorin bemühte sich Cameron Mackintosh um die Bühnenrechte und ging schließlich eine Kooperation mit Disney ein. Das Musical – in etwa so, wie man es heute auch in Stuttgart erleben kann – feierte dann seine Uraufführung 2004 in Bristol.
“Mary Poppins” erzählt die Geschichte der Familie Banks, deren recht aufgeweckten Kinder bisher jedes Kindermädchen vergraulten. Als die Kinder, Jane und Michael Banks, letztendlich selbst eine Ausschreibung verfassen, erscheint auf wundersame Weise Mary Poppins, zeigt den Kindern eine andere Sicht auf das Leben, vermittelt ihnen Werte wie Wertschätzung, Respekt und Mitgefühl. Und anders als noch im Film ist Mary Poppins hier ein sehr eigenwilliger und höflich zurückhaltender Charakter, der sehr von sich überzeugt ist und mit eigenwilligen Methoden sogar die Kinder zu bestrafen weiß.
Bei der besuchten Vorstellung wurde die Titelrolle von Melanie Ortner-Stassen gespielt, die die oben genannten Charaktereigenschaften so majestätisch und zugleich liebeswürdig und elegant verkörperte und dabei mit einer erstklassigen Stimme zu überzeugen weiß. An ihrer Seite spielte der bereits aus der Wiener Produktion bekannte David Boyd den multitalentierten Bert, der mal als Straßenkünstler oder Schornsteinfeger auftritt. Er besitzt ein umfassendes komödiantisches Talent, das er gleichermaßen auf seine Spielpartner und auf das Publikum überträgt.Winifred Banks, die Mutter der Kinder, wird hier von Jennifer van Brenk gespielt. Sie überzeugt im Gesang mit einer hervorragenden Stimme, hat allerdings in den Sprechszenen einen kleinen niederländischen Akzent, der an dieser Stelle jedoch charmant wirkt und nicht die Textverständlichkeit leiden lässt. Maik Lohse verkörperte bei der besuchten Vorstellung den Familienvater George Banks. Er schafft es, einerseits die rollenspezifische Strenge und Diszipliniertheit zu leben, aber auch die inneren Konflikte vor allem in der zweiten Hälfte. Überraschend war auch die Darstellung von Petra Welteroth als Haushälterin Mrs. Brill, die zurecht zweimal Szenenapplaus kassierte. Und auch Betty Vermeulen, bekannt als Tanja in “Mamma Mia” oder zuletzt auch Norma Desmond in “Sunset Boulevard”, spielt hier die kleine Rolle der Vogelfrau, schafft es jedoch auch in der kurzen Bühnenzeit das Publikum zu rühren. Die Stars der Vorstellung waren jedoch mit Abstand Zina Strunz und Benedikt Neuhoff in ihren Rollen als Banks-Geschwister. Sie sind nahezu ununterbrochen auf der Bühne präsent, spielen mit einer sehr hohen Spielfreude, haben keine Probleme mit dem – wohlgemerkt – immensen Text und bringen sich so elegant in das Ensemble ein, dass man vor den beiden nur den Hut ziehen kann.
Das Bühnenbild ist opulent, wie man es erwarten würde. Das Familienanwesen klappt sich aus dem hinteren Bühnenbild heraus, ist fähig sich zu drehen und erlaubt schnelle Szenenwechsel. Nebenschauplätze, wie der Park, Mrs. Corrys Buchstabenladen und die Kathedrale mit der Vogelfrau, sind in wenigen Augenblicken auf der Bühne zu bestaunen und verschwinden zur nächsten Szene wieder souverän.
Und auch wenn das Sounddesign hier wesentlich besser das kleine Orchester kaschieren kann, als im Theater gegenüber in Tanz der Vampire, spürt man dennoch, dass der Klang mit einem erschreckend dünn besetzten Orchestergraben nicht so klingt, wie man es sich wünschen würde und hier – gerade bei dieser rührenden Produktion – so viel Potenzial verpufft.
Mary Poppins ist ein Musical, das man ruhigen Gewissens auch mit jüngeren Kindern besuchen kann und durchaus das Potenzial hat, die ganze Familie zu begeistern, da es so viele Kleinigkeiten auf der Bühne zu entdecken gibt und auch Erwachsene zum Nachdenken anregen kann und wirklich noch lange nachwirkende Bilder auf der Bühne erzeugt. Schade ist nur, dass das Orchester so erschreckend klein ist und die Preise nicht wirklich familientauglich sind.