Spektakel, das ist wohl das Wort, dass sich das Theater Magdeburg auf die Fahnen geschrieben hat, wenn es um ihr DomplatzOpenAir geht. Gigantisch, spektakulär, faszinierend, begeisternd, man kann mit Superlativen nur so um sich werfen, wenn man diese wieder einmal gelungene Sommerproduktion des Hauses beschreiben will. Nach Erfolgen in den vergangenen Jahren mit Klassikern wie Les Misérables und der Rocky Horror Show, versucht in diesem Jahr der Klassiker West Side Story, quasi die Mutter aller Musicals, ihr Glück im spektakulären DomplatzOpenAir. Benötigt es einen Gradmesser, ob diese Nachfolge gelungen ist, braucht man sich bloß das Premierenpublikum anschauen, dass sofort nach dem Schlussakkord in Jubel ausbricht.
Wer kennt sie nicht, die Geschichte von Tony (Anton Zetterholm) und Maria (Iréna Flury), die beiden unglücklich Verliebten, die zu zwei rivalisierenden Gangs gehören. Wie ihre großen literarischen Vorbildern Romeo und Julia, ist den beiden nur ein kleiner Augenblick des Glücks vergönnt. Tony, Mitglied bei den Jets und bester Freund von Anführer Riff (Markus Schneider), verliebt sich in Maria, Schwester von Shark Anführer Bernardo (Sascha Luder). Die beiden geraten zwischen die Fronten, als sich der Krieg zwischen den Gangs verschärft. Schnell wird aus Spaß Ernst. Immer wieder gibt es Verletzte und schließlich sogar Tote. Bernardo hat Riff erstochen und Tony aus Verzweiflung über den Tod seines besten Freundes ersticht Bernardo. Das Chaos, gewürzt mit einer Prise Dramatik, ist perfekt.
Zwar kann Maria in ihrer Liebe zu Tony diesem seine Tat verzeihen und die beiden schmieden Pläne zu fliehen, der Rest der Sharks schwört jedoch Rache für den Tod ihres Anführers. Chino (BenCox) hat eine Waffe und will Jagd auf Tony machen. Action (Dennis Weißert) lässt deshalb die verbliebenen Jets ausschwärmen, um Tony zu warnen. An Docs (Peter Wittig) Tankstelle treffen die Jets schließlich auf Anita (Andrea Sánchez del Solar), die Freundin vom getöteten Bernardo und Vertraute von Maria.
Seit der Uraufführung von 1957 ist das Stück von Jerome Robbins (Idee und Choreografie), Arthur Laurent (Buch) und Leonard Bernstein (Musik) unzählige Male aufgeführt und inszeniert worden. Trotzdem gelingt es dem Theater Magdeburg hier etwas Einmaliges und Neues zu schaffen. Vor der imposanten Kulisse des Magdeburger Doms, hat das Team eines schier atemberaubende Show auf die Beine gestellt. Unter der Regie von Gil Mehmert, eigentlich für sich genommen schon ein Garant für großartiges Musicals, ist hier eine vollkommen neue Version des Klassikers entstanden. Zwar hört man vom imposanten und erstklassigen Magdeburgischen Philharmonie die bekannten Musikstücke wie „Tonight“, „America“ und „I feel pretty“, aber alleine das Bühnenbild und die Ausstattung vom Team um Jens Kilian sucht seinesgleichen. Gewohnt mehrstöckig, mit rund 10 Meter hohen Hochhäuser und von überall bespielbar, bietet die Bühne genug Raum für diverse Schauplätze. Ein (mit Muskelkraft) fahrbares Bühnenelement bietet auf der etwa 900m² großen Bühne zudem Raum für die Tankstelle von Doc und den Brautmoden-Laden, in dem Anita und Maria arbeiten. Die Bühnenarbeiter, die diese Teil im Laufe des Abends immer wieder drehen, gehen dabei geschickt im Geschehen unter, indem sie kostümiert sind und so selbst im Hintergrund verschwinden, wenn nur im Vordergrund ein einzelner Darsteller singt. Die Kostüme von Falk Bauer tun ihr Übriges, um die Szene auf New Yorks Straßen zum Leben zu erwecken. Bunt und schrill, aber nie übertrieben sind beide Gangs ausgestattet, zwar klar zu unterscheiden, aber trotzdem zusammenpassend.
Highlight, aber ist doch das Überraschungselement des Abends. Wer die Magdeburger Inszenierungen kennt weiß, dass hier auch schon ein Pferd auf der Bühne stand. Dieses Mal jedoch kommen Pferdestärken der etwas anderen Art zum Einsatz. Vom Pick-up über das Polizeimotorrad bis zum Muscle Car, für jeden Geschmack ist das passende Modell dabei. Diese Autos werden fröhlich von den Darstellern über die Bühne, aber auch über den gesamten Domplatz gefahren, sodass dieser wie ein Teil des Geschehens wirkt. Es macht fast den Eindruck, als würde das Publikum auf einer Verkehrsinsel sitzen und dem Tun auf den Straßen New Yorks folgen.
Das DomplatzOpenAir lebt jedoch nicht nur von der fantastischen Inszenierung. Auch die hochkarätige Riege an Darstellern tut ihr Übriges. Neben dem großartigen Hausensemble sind erneut zahlreiche Gäste dabei, die die Cast komplettieren. Allen voran scheinen hier natürlich die Stars des Abends: Tony und Maria. Besser bekannt als Anton Zetterholm und Iréna Flury. Beiden scheinen die Rollen wie auf den Leib geschrieben. Sie verkörpern authentisch das junge Liebespaar und zeigen in ihren Stimmen doch die nötige Reife, die es für die Partien von Tony und Maria braucht. Besonders Flury zeigt, wie gut sie hier ihre Ausbildung vom Konservatorium Wien, die sie unter anderem auch im Fach Operette absolviert hat, zur Anwendung bringen kann. Aber auch Zetterholm zeigt, dass er lange nicht mehr nur Tarzan ist, die Rolle die ihn deutschlandweit bekannt gemacht hat. Der charmante Schwede verzaubert mit seiner Stimme nicht nur Maria.
Auch Riff und Bernardo zeigen, dass sie verdienterweise nicht zum ersten Mal in der West Side Story auf der Bühne stehen. Markus Schneider (Riff), der bereits am Staatstheater Braunschweig als „Action“ zusehen war, dominiert vor allem durch Tanz und Schauspiel. Er geht auf in der Rolle des Anführers der Jets und alle scheinen an seinen Lippen zu hängen und ihm zu folgen. Sascha Luder steht nach 2013 am Theater Regensburg hier in Magdeburg erneut als Bernardo auf der Bühne. Der Schweizer, der seine Ausbildung an der Münchener Theaterakademie August Everding absolvierte, scheint optisch wie gemacht für die Rolle des schönen Latinos. Wenn er aus dem schwarzen Muscle Car steigt, scheint es als hätte er sein Leben lang nie etwas anders gemacht. Sowohl im Zusammenspiel mit seiner Anita als auch mit seinen Sharks zeigt er, wie gut er sein Handwerk beherrscht.
Andrea Sanchez del Solar als schöne und rassige Anita ist ebenso wie die Herren eine Wiederholungstäterin, was die West Side Story angeht. Sie stand bereits in Detmold (2013-2015) und Wuppertal (2015/2016) in diesem Stück auf der Bühne. Nichtsdestotrotz ist ihre Interpretation der Anita frisch und frech. Stimmlich braucht sie sich nicht zu verstecken und meistert ihre Auftritte in „America“ und „A boy like that“ ohne Tadel ab. Aber besonders ihr verzweifeltes Schauspiel nach dem Tode Bernardos und dem Missbrauch durch die Jets löst Gänsehaut aus und lässt das Publikum erstarren.
Eigentlich müsste jeder Einzelne aus dem Ensemble für die großartigen gesanglichen und tänzerischen Leistungen hervorgehoben werden, dies würde aber den Rahmen sprengen. Stellvertretend für die fantastische Leistung des gesamten Teams, sollten aber Peter Wittig als Doc, Dennis Weißert als Action und Vera Weichel als Anybodys genannt werden. Genau wie der Rest des Ensembles zeigen alle drei neue Facetten ihrer Rollen, die im Stück vielleicht sonst zu kurz kommen und hier endlich Raum finden.
Um die Superlative erneut zu bemühen: Das Theater Magdeburg zeigt ein gigantisches Spektakel, welches sich kein Musicalfan entgehen lassen sollte. Die Auslastung der Vorstellungen liegt jedoch bereits jetzt bei 98 Prozent, sodass es schwer wird, noch Tickets zu ergattern. Trostpflaster jedoch: auch im nächsten Jahr wird es ein OpenAir geben, dann mit Andrew Lloyd Webbers Jesus Christ Superstar, das sicherlich erneut die Superlative bemühen wird.