Nach dem Roman „Die Elenden“ von Victor Hugo, wurde das Musical Les Misérables, mit der Musik von Claude-Michel Schönberg und dem Buch von Alain Boubil, 1980 in Paris uraufgeführt. Bereits 1978 erschien die erste Verfilmung des Romans, weitere folgten. Das Interesse der Filmemacher blieb durch den langjährigen Bühnenerfolg des Stückes ungebrochen und so kam der Stoff 2012 mit namhaften Schauspielern, wie Hugh Jackman, Russel Crowe und Anne Hathaway, in den USA und 2013 dann auch deutschlandweit in die Kinos – doch damit jedoch nicht genug, denn es wurden ebenso Konzerte veranstaltet, bei denen es bis zu 125.000 Zuhörer gab. Eines der bewegendsten war wohl das, anlässlich des 10. Geburtstages der West End Produktion aufgezeichnete Konzert in der Royal Albert Hall, wo als Höhepunkt zum Abschluss 17 Darsteller – alle aus internationalen Produktionen – die den Jean Valjean gemimt hatten, jeweils einen Teil des „Das Lied des Volkes“ in ihrer Landessprache vortrugen.
Dem deutschen Publikum hatte das Stück aus unterschiedlichen Gründen schon für längere Zeit den Rücken gekehrt, umso größer war daher die Begeisterung, als der Intendant der Freilichtspiele Tecklenburg, Radulf Beuleke, im vergangen Jahr bei der Pfingstgala stolz verkünden durfte, das es, neben Monty Phytons Spamalot und dem Kinderstück Peter Pan, für 2018 auf dem Spielplan steht.
Hatte er im letzten Jahr mit Rebecca die Messlatte schon ziemlich hoch gelegt, kann man mit Fug und Recht behaupten, dass er mit Les Misérables noch eine Schippe drauf legen konnte. Das zeigen auch die wiederholt sehr gut besuchten Vorstellungen in diesem Jahr. Die Freilichtspiele sind inzwischen seit vielen Jahren eine Institution und viele Zuschauer sind der Bühne im Tecklenburger Land genauso lange schon treu. Besonders daran ist nicht nur die seit einigen Jahren bestehende Überdachung für die Zuschauer, sondern auch die sehr große, breite Bühne. Gleichfalls bemerkenswert ist ein stets großes Ensemble, teilweise bestehend, aus dem Chor, dessen Mitglieder ortsansässig sind oder aus der näheren Umgebung stammen, und die Bühne neben den Hauptdarstellern mit Leben füllen. Oftmals fällt es sogar geschulten Augen schwer, zwischen Profis und Laiendarstellern zu unterscheiden, was für viel Professionalität spricht. Das alles verleiht dem Ganzen den Eindruck einer großen Familie, eine Tatsache, die auch die Künstler, wie man immer wieder hört, zu schätzen wissen. Das quirlige Treiben im Ort vor jeder Vorstellung gehört inzwischen so sehr mit zum Gesamtbild, dass man glauben könnte, es wäre ein Teil des Stückes. Die Fachwerkhäuser, die die Altstadt von Tecklenburg prägen, passen in diesem Jahr auch ganz besonders gut dazu. So ganz ist es gar nicht zu erklären, was den Erfolg des Stückes ausmacht.
Eigentlich sollte man meinen, dass Strafgefangene, Aufständische, unerfüllte Liebe, Tod und Elend nicht gerade das ist, was beim Publikum für einen entspannten und friedvollen Feierabend sorgt – auch wenn hier und da zwischen all dem kleine Lücken des Glücks auftauchen. Oder es ist gerade das, was die Geschichte um Jean Valjean so spannend macht, obwohl man hier eben nicht das ganz typische Happy End eines Filmepos erwarten darf. Interessant sind auch die Charaktere, die – auf den zweiten Blick betrachtet – genau das nicht sind, was sie zunächst zu sein scheinen.
Als der Strafgefangene Jean Valjean (Patrick Stanke) im Jahre 1815 nach 19 Jahren Zuchthaus wegen eines Brotdiebstahls auf Bewährung entlassen wird, schwört der Aufseher Javert (Kevin Tarte) ihn auf Ewig im Auge zu behalten. Ziellos nach einem Nachtlager suchend, kommt Valjean beim Bischof von Digne (Florian Soyka) unter und kann dem dort befindlichen Silber nicht widerstehen, weil er glaubt, damit den Grundstock für ein neues Leben in den Händen zu halten. Bei seiner Verhaftung steht ihm der Bischof bei und entlastet ihn, schenkt ihm zum eigentlichen Diebesgut sogar noch zwei silberne Kerzenleuchter hinzu, weil er in Valjean das Gute zu erkennen glaubt. Dieser zeigt sich von dieser Geste so berührt, dass er fortan tatsächlich sein Leben ändert. Jahre später hat er seinen alten Namen abgelegt, nennt sich Monsieur Madeleine und hat es als Bürgermeister und Fabrikbesitzer zu etwas gebracht. In seiner Tuchfabrik wird eine junge Fabrikarbeiterin, Fantine (Milica Jovanovic), von den Kolleginnen geächtet, weil sie herausgefunden haben, dass sie Mutter einer uneheliche Tochter ist. Ihre Tochter Cosette ist bei den Wirtsleuten Thenardier (Jens Janke und Bettina Meske) untergebracht, die sie mehr schlecht als recht versorgen. Als Fantine vom Vorarbeiter entlassen wird, verkauft sie das bisschen Hab und Gut, das ihr geblieben ist und zuletzt sogar sich selbst.
Ein Streit mit einem Freier ruft Offizier Javert auf den Plan. Monsieur Madeleine rettet Fantine und Javert vermutet, wen er dort vor sich hat. Verstärkt wird sein Verdacht noch, als Madeleine einem Verunglückten hilft. Valjean entschließt sich, das Versteckspiel aufzugeben und Javert seine wahre Identiät preiszugeben. Als Fantine im
Krankenhaus stirbt, verspricht Valjean ihr, sich um ihre Tochter Cosette zu kümmern. Er kauft sie von den Thenardiers, die sie für ihre Drecksarbeit missbrauchen, ihre eigene Tochter Eponine (Lasarah Sattler) jedoch hofieren, frei und nimmt sie an Kindes statt an. Jahre später kreuzen sich die Wege aller in Paris erneut. Die Studenten unter Anführer Enjolras (David Jakobs) bereiten den Barrikadenkampf vor. Einer von ihnen, Marius (Florian Peters), verliebt sich in die herangewachsene Cosette. Auch Eponine hat sich den Studenten angeschlossen. Die Thenardiers, Valjean und auch Javert, der sich als Spitzel eingeschlichen hat, sind dort. Der Straßenjunge Gavroche jedoch entlarvt und verrät ihn. Valejean, dem er übergeben wird, entschließt sich, ihn laufen zu lassen. Den niedergeschlagenen Aufstand überleben schwer verletzt nur Valjean und Marius. Ihre Flucht durch die Abwasserkanäle wird jäh durch Javert unterbrochen, der angesichts der Verwundeten und Valjeans Barmherzigkeit seine Prinzipien und Racheschwüre nichts wert sind. Er verschont die beiden und begeht Selbstmord. Als Marius und Cosette sich das Ja-Wort geben, bleibt Valjean den Feierlichkeiten fern, um nicht Gefahr zu laufen, dass seine Vergangenheit ans Tageslicht kommt. Die Thenardiers erscheinen dort um Geld zu erpressen. Das Brautpaar erkennt daraufhin den gesamten Zusammenhang und eilen zum sterbenden Valjean…
Die Umsetzung des Stoffes durch Ulrich Wiggers, der als Regisseur mittlerweile einige Stücke in Tecklenburg wie „Der Schuh des Manitu“, „Artus – Excalibur“ oder auch „Shrek“ mit Erfolg inszeniert hat, muss man als genauso hervorragend gelungen anerkennen, wie die Besetzung der einzelnen Rollen. Gerade bei einem solchen Stück dürfe es gar nicht so einfach sein Darsteller zu finden, die diese mehr als überzeugend mit Leben füllen. Vielleicht ist auch das einer der Gründe, weshalb gerade bei der Rolle des Jean Valjean im Vorfeld, wie man hörte, bei einigen Zuschauern Zweifel aufgekommen sind, ob Patrick Stanke dafür die richtige Wahl sei. Allerdings spätestens nach dem ersten Auftritt Stankes bei der Premiere weiß man genau: so stellt man sich Valjean vor. So und nicht anderes. Zweifel jeglicher Art sind völlig unbegründet, denn er meistert diese Aufgabe absolut bravurös. Von Beginn an spürt man wie Stanke diese Rolle lebt. Der Zuschauer kann gar nicht anders als mit ihm zu leiden, zu lieben, zu sterben und sich bei seinem „Bring ihn heim“ heimlich die Tränen aus den Augen zu wischen. Chapeau, Patrick.
Eine ebenso große Begeisterung löst Kevin Tarte als Javert beim Publikum aus. Zorn und Hass auf Jean Valjean spiegeln sich sowohl in Mimik als auch in der Stimme wieder. Das Zusammenspiel mit Patrick Stanke stimmt bis ins kleinste Detail. Die beiden schenken sich nichts auf der Bühne und genau das ist es, was die Zuschauer in ihren Bann zieht.
In Tecklenburg schon fast zu Hause ist mittlerweile Milica Jovanovic. Gab sie im letzten Jahr eine fantastische „Ich“ bei Rebecca, ist sie in diesem Jahr Fantine. Es ist schade, dass ihre Figur bereits so früh im Stück die Bühne verlassen muss, doch zuvor begeistert sie das Publikum noch mit „Ich hab geträumt vor langer Zeit“. Gerne hätte man mehr von dieser schönen Stimme Milica’s gehört. Zum Glück für den Zuschauer nutzt sie jedoch die kurze Zeit um einmal mehr ihren Facettenreichtum, sei es gesanglich oder darstellerisch, mit den Anwesenden zu teilen.
Zuletzt noch in Stuttgart als „Quasimodo“ beim „Glöckner von Notre Dame“ erfolgreich, dürfte David Jakobs in dieser Sommerproduktion in Tecklenburg ein deja vu ereilt haben. In der Duisburger Aufführung 1996 noch der kleine Gavroche und nun, einige Jahre später, Enjolras, der die Studenten im Kampf an den Barrikaden anführt. Es kommt wohl eher selten vor, zeichnet ihn jedoch aus, dass sich für einen Darsteller so ein Kreis schließt. David Jakobs überzeugt vor allem durch seine klare, kräftige Stimme mit der er mühelos alle Passagen meistert. Es ist ein Genuss ihm zuzuhören, aber auch hier sind die Solopassagen bedauerlicherweise nur dünn gesät.
Ebenso die beiden Rollen Cosette (Daniela Braun) und Eponine (Lasarah Sattler) sind mit Geschick besetzt worden. Daniela Braun, die bereits als Christine im „Phantom der Oper“ in Hamburg und Oberhausen und zuletzt – gemeinsam mit Milica Jovanovic und Florian Peters – in Wien bei Schikaneder auf der Bühne stand, hat hier nun wiederholt die Möglichkeit die Bandbreite ihres Könnens darzustellen. Für die junge Nachwuchsdarstellerin Lasarah Sattler ist Tecklenburg ein weiteres Mosaiksteinchen in ihrer aufstrebenden Karriere. Zuletzt in dem Try-Out-Musical „Wemmicks“ in Potsdam zu sehen, hat sie hier einmal mehr die Möglichkeit von ihrem Können zu überzeugen, was ihr auch problemlos gelingt. Florian Soyka als Bischof von Digne, der Valjean Unterkunft gewährt und ihn durch eine großzügige Geste versucht zurück auf den rechten Weg zu bringen, darf leider nur kurz sein Können in einem Solo darbieten. Das allein reicht jedoch völlig aus um eine Vorstellung davon zu bekommen was stimmlich bei ihm alles möglich ist. Florian Peters (Marius), spielte zuletzt den Johann Friedel in der Uraufführung des Musicals „Schikaneder“ bei den Vereinigten Bühnen Wien. Er kann ebenfalls sowohl schauspielerisch als auch gesanglich überzeugen. Besonders bei „Dunkles Schweigen an den Tischen“ könnte man eine Stecknadel fallen hören. Man darf davon ausgehen, dass man in den nächsten Jahren noch einiges von dem jungen Mann hören und sehen wird. Die Thernadiers, die sich mit sehr farbenfrohen Kostümen und gekonnt schrillem Gesang durch die gesamte Szenerie spielen, bilden einen Kontrast zu den doch stellenweisen recht düsteren Passagen. Ihre dennoch eigentlich tragischen Rollen werden von Jens Janke, der kurzfristig für den erkrankten Frank Winkels eingesprungen ist und Bettina Meske gekonnt übernommen.
Im Sturm erobert haben die beiden Kinderdarsteller der Cosette und des Gavroche die Herzen des gesamten Publikums. Mehr als einmal gibt es dort verdienten Szenenapplaus. Mit dieser Inszenierung hat Ulrich Wiggers und sein Kreativteam, unterstützt von einem 20-köpfigem Orchester unter der Leitung von Tjaard Kirsch, es geschafft dass die ohnehin hochkarätige Besetzung noch ein Stück über sich hinauswächst und dem Zuschauer einen oder auch mehrere unvergessliche Abende beschert. Fazit ist: in jedem Fall anschauen. Zum einen ist es fraglich, ob das Stück in nächster Zeit überhaupt an anderer Stelle in Deutschland zu sehen sein wird und zum anderen sollte man sich diese grandiose Inszenierung in Tecklenburg nicht entgehen lassen. Karten gibt es unter allen bekannten Vorverkaufsstellen oder direkt bei der Geschäftsstelle der Freilichtspiele Tecklenburg unter Tickethotline: 05482-220