Es ist ein Leben zwischen Liebe und Krieg, Hass und Leidenschaft, Macht und Unterdrückung, das der junge russische Arzt Jurij Andrejewitsch Schiwago im wenig romantischen Russland des beginnenden 20. Jahrhunderts führt. Hin- und hergerissen zwischen der Liebe zu zwei Frauen, muss er eine Entscheidung treffen.
Boris Leonidowitsch Pasternak erlangte mit seinem Roman über das Leben des Arztes und Dichters Dr. Schiwago, welcher im Jahr 1956 fertiggestellt wurde, Weltruhm. Ähnlich wie seine Titelfigur hatte auch er mit vielerlei Schwierigkeiten zu kämpfen, ehe er seine Schriften mit der Welt teilen durfte. Auch heute gibt es noch Stimmen, die behaupten verschiedene Kapitel des Buches seien nicht nur Fiktion, sondern beinhalten gleichermaßen auch biografische Passagen. Das Buch, das in gut 600 Seiten die Geschichte erzählt, als Musical auf die Bühne zu bringen, war sicherlich nicht nur ein Wagnis, sondern auch eine Meisterleistung.
Lucy Simon, die mit „The Secret Garden“ in Amerika vor vielen Jahren schon große Erfolge feierte, bedeutet der Film „Dr. Schiwago“ sehr viel. Mit Omar Sharif und Julie Christie in den Titelrollen hat dieser dann den Sprung auf die große Leinwand geschafft. Dadurch inspiriert entstand ihr Wunsch „etwas zu erschaffen, was aus tiefstem Herzen kommt“, wie sie selbst vor einiger Zeit in einem Interview erklärte und ging mit viel Enthusiasmus daran sich diesen auch zu erfüllen. Viele Jahre feilte sie daran diesen dramatischen Stoff auf die Bühne zu bringen. Nach seiner Uraufführung in New York verschwand das Stück relativ schnell wieder von der Bildfläche. Umso größer war die Freude, als es im Jahr 2018 in der Musikalischen Komödie Leipzig in Deutschland seine Uraufführung feiern konnte. Dort erlebte es, doch ein wenig unerwartet, einen so großen Erfolg, dass noch im gleichen Jahr eine Wiederaufnahme erfolgte und es seither auch in anderen Theatern in Deutschland gezeigt wird. Sogar den Weg ins benachbarte Ausland hat es inzwischen gefunden und freut sich über ansehnliche Zuschauerzahlen. Darum stellte sich die Frage, es auf die Freilichtbühne Tecklenburg zu holen, gar nicht erst groß. Schließlich ist Intendant Radulf Beuleke dafür bekannt, mit gutem Gespür und viel Geschick die richtigen Stücke auszusuchen, um im Sommer der scheinbar stetig wachsenden Menge an Stammbesuchern Jahr für Jahr ein großartiges Programm zu bieten. Als bekannt wurde, welches Stück 2019 auf die Bühne gebracht werden sollte, waren die Meinungen größtenteils äußerst positiv. Allerdings, ein wenig Skepsis zu Anfang blieb, zumindest beim Publikum. Den russischen Winter und die dazugehörige Stimmung bei sommerlichen Temperaturen realistisch darstellen? Das sollte funktionieren? Ein ganz klares: ja!
Dabei bedienen sich Ulrich Wiggers (Konzeption) und Jens Janke (Realisation) recht weniger Requisiten, um das Bühnenbild zu gestalten. So wirken ein paar „schneebedeckte“ Bäume im Blickfeld geradeaus; ein zum Kreuz gelegter, von vier Seiten zur Mitte hin aufsteigender Laufsteg als zentraler Punkt auf der Bühne, welcher zum Ende in seine Fragmente zerlegt und zu Gräbern des Friedhofs umgestaltet wird, relativ puristisch. Linksseitig hinter dem feststehenden Brunnen, der ebenfalls ins Spiel einbezogen wird, kann man das Lazarett erkennen… sehr viel mehr braucht es auch nicht. Bei den wunderbaren Kostümen, die von Karin Alberti gestaltet wurden, fallen besonders die des großen Ensembles, für das Tecklenburg berühmt ist, auf. Sie zeugen von viel Liebe zum Detail und lassen die Zuschauer einen Hauch des alten Zarenreiches spüren. Das Stück verlangt den Darstellern nicht nur emotional, sondern auch körperlich einiges ab. Ohne eine gewisse Fitness wäre der Abend in der dicken Winterkleidung bei Temperaturen, die oftmals jenseits der 25 Grad Marke liegen, kaum zu bewältigen. Aber auch dies meistern alle grandios. Überhaupt liefert der Cast wirklich durchweg eine fantastische Arbeit ab.
Mit der Leipziger Produktion ist die Messlatte schon ordentlich hoch gelegt worden, aber es wäre nicht Tecklenburg, wenn sie die Herausforderung nicht annehmen und vor allem auch meistern würden. Mit Jan Amman hat man sich gefühlt den „echten“ Dr. Schiwago ins Haus geholt. Nicht nur, dass man ihm eine gewisse Ähnlichkeit zu Film-Legende Omar Sharif nicht absprechen kann, er bringt auch die Rolle so authentisch auf die Bühne, dass man sich selbst bei 40 Grad Außentemperatur einer Gänsehaut nicht erwehren kann. Mit einer unglaublichen Bühnenpräsenz haucht er der Romanfigur Boris Pasternaks von der ersten Sekunde an Leben ein und zieht das Publikum in seinen Bann.
Sein einschmeichelnder Bariton, der gleichermaßen verzweifelt und sanft klingen, als auch aufbrausend und wütend daherkommen kann, ist ein absoluter Hörgenuss. Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle der von ihm mit allen Gefühlen behaftete Song „Tränen und Wut“. So ist es auch weder ein Wunder noch eine Seltenheit, dass der eine oder andere Zuschauer mehr als einmal zu Gast in Tecklenburg ist um sich nach Russland entführen zu lassen.
Milica Jovanovic gehört in Tecklenburg inzwischen beinahe zur festen Stammbesetzung. Bereits 2009 stand sie als Nehebka in „Aida“ und im Ensemble von Evita dort auf der Bühne. Seit 2016 ist sie jeden Sommer ein gern gesehener Gast in verschiedenen Produktionen. Auch in diesem Jahr wirkt sie bei zwei der drei Stücke mit. Außer bei Don Camillo mimt sie an der Seite Ammanns überzeugend die Larissa, genannt Lara in Dr. Schiwago. Das Zusammenspiel, sowohl mit ihm als auch mit Schauspielerkollegin Wietske van Tongeren, die Schiwagos Ehefrau Tonia darstellt, darf durchweg als sehenswert bezeichnet werden. Ganz wunderbar ist auch das Duett der beiden Damen Lara und Tonia „Trotzdem wundert es mich nicht“ anzuhören.
Die Überraschung des Abends ist Dominik Hees in der Rolle des Pascha / Strelnikov. Der durchaus anspruchsvolle Part, der eigentlich gleich zwei Personen beinhaltet, wird von ihm souverän abgeliefert. Auch wenn sein Strelnikov insgesamt noch etwas bissiger hätte sein können, ist es spannend die Entwicklung seiner Person zu verfolgen.
In diesem Jahr sowohl bei Don Camillo als auch bei Dr. Schiwago vertreten ist Kevin Tarte. Als Alexander Gromeko, Tonias Vater, versucht auch er in den Wirren des Krieges die Familie, trotz aller Schwierigkeiten, zusammenzuhalten. In dieser Rolle kann er absolut überzeugen, sowohl gesanglich, als auch darstellerisch.
Dass man auch in kleineren Rollen durchaus großen Eindruck hinterlassen kann, beweist Nicolai Schwab. Der zierliche Darsteller, der als Janko sterbend auf dem Feld Dr. Schiwago den Brief an seine unerfüllte Liebe Katharina übergibt, rührt einmal mehr zu Tränen. Den Brief in den Händen haltend wird Schiwago bewusst, dass er seine Situation dieser gerade erlebten gar nicht so unähnlich ist. An verschiedenen Orten und dennoch im Lied vereint entsteht zwischen Lara und Schiwago „Jetzt“, das die beiden gemeinsam so gefühlvoll auf die Bühne bringen, dass man im Publikum erneut das Rascheln von Taschentüchern vernimmt. Ein Part von vielen dieses Stückes bei dem sofort der Gedanke aufkommt: Ganz großes Kino!
Der aus diversen Theatern, jedoch noch eher aus Fernsehproduktionen bekannte Bernhard Bettermann spielt den Rechtsanwalt Viktor Komarovskij, der im Stück immer versucht im Hintergrund die Fäden zu ziehen, was ihm jedoch nicht in jedem Fall gelingt. Bei seiner Rolle wurde der Schwerpunkt auf die Schauspielerei gelegt, doch auch als Sänger macht er keine schlechte Figur.
Keinesfalls vergessen darf man auch das großartige Orchester unter der Leitung von Tjaard Kirsch, der in gewohnt hochprofessioneller Manier seine Musiker immer wieder zu Höchstleistungen anspornt. Dabei dringen die leisen Töne ebenso wie die temperamentvollen wohlklingend an die Ohren der Zuschauer und untermalen das von den Protagonisten mit allen Höhen und Tiefen gezeichneten Bildes der Welt des Dr. Schiwago.
Bleibt als Fazit zu sagen, dass alle Beteiligten insgesamt eine starke Leistung abliefern, was bei dem doch schweren Stoff kein Spaziergang ist. Das Publikum würdigt dies auch mit absolut verdienten, minutenlang anhaltenden Applaus begleitet von Standing Ovations. Aber nach der Saison ist vor der Saison. Die Vorbereitungen für „Sister Act“ und „Besuch der alten Dame“, die beiden Stücke, die Radulf Beuleke für 2020 bereithält, laufen bereits auf Hochtouren. Wer dabei sein möchte merkt sich am besten schon einmal das Datum des Vorverkaufsstartes am 12. November 2019 vor.