„Ich bin ein Teil von jener Kraft,
Die stets das [Gute] will und stets das [Böse] schafft.“
Dreht man Goethes Mephisto die Wort etwas im Mund um, lässt das Motiv des Henry Jekyll damit zusammenfassen. Getrieben von dem Wunsch, seinem Vater zu helfen, dessen geistiger Verfall ihn sehr belastet, experimentiert Jekyll mit seltenen Drogen – nur Gutes im Sinn. Seine Idee, die Welt von allem Bösen zu befreien, indem er den bösen Teil ein jeden Persönlichkeit extrahiert, ist nobel, aber auch gefährlich.
Frank Wildhorn adaptierte das Buch von Robert Louis Stevenson zum Musical und brachte es 1997 an den Broadway. Seitdem wurde es weltweit in unzähligen Theatern gespielt und verliert dabei nichts von seinem düsteren Charme. Die Inszenierung in der Musikalischen Komödie Leipzig trifft den dunklen Nerv des Stücks perfekt und lässt die Zuschauer in das verruchte London des 19. Jahrhunderts abtauchen, in dem Gut & Böse nicht so einfach zu trennen sind. So ergeht es auch Henry Jekyll, dessen Experimente die Grenzen zwischen beiden Fronten bald verwischen.
Bereits das Bühnenbild, ähnlich einer verlassenen U-Bahn-Station, legt die Grundstimmung fest und bietet den perfekten Rahmen für jede Szene – ganz egal ob im Krankenhaus, auf Londons Straßen oder im Anwesen von Lord Danvers. Ein großes Lob gilt in dieser Inszenierung von Cusch Jungs zuerst dem Orchester der Musikalischen Komödie. Über 30 Musiker sorgen an diesem Tag für einen unvergleichlichen Sound – ob laut oder leise, rockig oder sanft, jeder Ton ist glasklar. Ein klarer Genuss für die Ohren.
Ein weiteres Highlight ist das Ensemble der Musikalischen Komödie. Die Damen und Herren zeigen als Bewohner Londons zu jeder Zeit großartige Leistungen und überwinden die Barriere zum Publikum in kürzester Zeit. Hierzu tragen sicher auch die detailreich gestalteten Kostüme von Sven Bindseil bei, die jedes Ensemblemitglied sofort als Mitglied der High-Society oder einfachen Bürger erkennen lassen. Auch die Bewohner des „roten Ratte“ bestechen durch einfallsreiche Kostüme, die sich deutlich von den steifen, gutbürgerlichen Londonern abheben.
Herzstück des Musicals sind aber die drei Hauptdarsteller Marc Clear (Jekyll/Hyde), Lucy Scherer (Lisa Carew) und Julia Lißel (Lucy Harris). Alle drei stellen eindrucksvoll unter Beweis, dass die Musikalische Komödie hier drei starke Gäste für die Rollen ausgesucht hat. Besonders Marc Clear vollbringt wahre Höchstleistungen, da er rollenbedingt fast ständig auf der Bühne zu sehen ist und beide Rollen nicht nur stimmlich, sondern auch körperlich fordernd sind. Diese Anstrengung ist ihm jedoch kaum anzumerken. Sein Schauspiel ist detailreich und voller Herzblut spielt er die innere Zerissenheit des Dr. Jekyll, sein Streben Gutes zu tun, bis es ihn letztendlich zerreißt. Sein Hyde ist düster und gruselig. Er verfolgt zu jeder Zeit nur seine eigenen Leidenschaften, Empathie ist ihm völlig fremd. Obwohl er das Monster der Geschichte ist, so kann man ihn doch nicht dauerhaft als solches sehen, denn seine Taten sind wenn auch nicht gerecht, dann in einigen Fällen doch menschlich fast nachvollziehbar. Marc Clear beweist hier sein ganzes Können und zeigt eine breite Palette an gesanglichen und schauspielerischen Höhepunkten, die das Publikum mühelos in seinen Bann zieht.
Seine Verlobte Lisa Carew spielt Lucy Scherer, die mit lieblicher Stimme und Anmut ein sanftes Gegenstück zu dem hitzköpfigen Henry Jekyll bildet. Ihre Liebe zu ihm ist tief und innig – und wenn es darum geht diese gegen die Londoner Gesellschaft zu verteidigen, steht sie Hyde fast in nichts nach. Mit ihrer glasklaren Stimme ist sie eine wunderbare Ergänzung zu Marc Clear und gleichzeitig ein tolles Pendant zu ihrer Kollegin Julia Lißel.
Julia Lißel ist die zweite weibliche Hauptrolle und verkörpert Lucy Harris, eines von Londons leichten Mädchen. Ihre Welt ist die „rote Ratte“ wo Spider (Cusch Jung) seine Mädchen streng führt und seinen zahlenden Kunden fast alles erlaubt. Hinter ihrem toughen Auftreten steckt auch hier ein weicher Kern, den Julia Lißel in ihrem facettenreichen Schauspiel geschickt zur Geltung bringt. Ihre Stimme ist sanft und verführerisch, bei „Schafft die Männer ran“ sind wohl nicht nur diese hellauf begeistert, im Duett mit Lucy Scherer harmoniert sie ausgezeichnet.
Am Ende bleibt kein Fünkchen der Kritik für diese Inszenierung. Hier stimmt jedes Detail und Erwartungen werden sogar noch übertroffen, sei es von der Pyrotechnik auf der Bühne oder der Akrobatin, die sich plötzlich elegant an zwei Tüchern über der Bühne rekelt. Eine durch und durch gelungene Vorstellung!