Dass das Genre „Musical“ vielfältig sein kann und nicht immer aus der x-ten Produktion von „Kiss me Kate“ oder „My fair Lady“ bestehen muss, wird einem schlagartig bewusst, wenn man sich die letzten 20 Jahre anschaut, wo Musicals wie „Rent“ oder „Fun Home“ gerade am Broadway große Erfolge verbuchen konnten. Dieser Trend ist hier in Deutschland noch nicht angekommen. Dies will nun das kleine Unternehmen „Off Musical Frankfurt“ im Herzen des Rhein-Main-Gebiets ändern und bringt ein viel zu selten in Deutschland gespieltes Stück nun mit ordentlich Lokalkolorit auf die (zugegeben) kleine Bühne der Brotfabrik in Frankfurt-Hausen.
Zugegeben ist es schwer, „Hedwig and the angry inch“ wirklich dem Musical zuzuordnen, wo dieses kleine Zwei-Personen-Stück (von der Band mal abgesehen) doch mit allen Klischees bricht, die das Genre mit sich bringt. „Hedwig“ verzichtet auf ein opulentes Bühnenbild, auf ein üppiges Orchester und rasante Szenenwechsel und gleicht in der Aufmachung eher einem, auch in der Handlung angesprochenen, Konzert. Die Band ist das Bühnenbild und die jeweils gewählte Location. Und das Publikum gehört auch zwingend dazu. Man könnte fast meinen, man könnte das Stück ebenso schwer in eine Schublade stecken, wie man es die Figur Hedwig kann. Mann, Frau oder doch beides? Ein hochaktuelles Stück, gerade in der heutigen Zeit, wo zwingende Geschlechterrollen nicht mehr zeitgemäß sind und man zurecht ungern einer Schublade angehören will.
Das Stück erzählt von der „international ignorierten Chanteuse“ Hedwig Schmidt, die einst als Hansel in Ost-Berlin das Licht der Welt erblickte. Dort, getrieben von der Vorstellung das fehlende Stück von sich selbst finden zu wollen, verliebt sich Hansel in den GI Luther. Um der DDR zu entfliehen, muss Hedwig einen Teil von sich selbst zurücklassen und lässt sich zur Frau umoperieren. Leider gerät Hedwig dabei an einen Pfuscher und vom Geschlechtsorgan bleibt nur der im Titel genannte „angry inch“. Dennoch schafft es Hedwig in die USA, wo Luther sie jedoch verlässt. Mit kleineren Jobs hält sich Hedwig dabei über Wasser und verliebt sich erneut: in Tommy Speck. Der lässt sich von Hedwig einige Songs schreiben, kann sie jedoch dennoch nicht ganz akzeptieren und lässt sie zurück, während er mit Hedwigs Musik große Erfolge feiert. Im Stück zelebriert sich Tommy in der Commerzbank-Arena gerade selbst bei einem ausverkauften Stadionkonzert, welches sogar im Radio übertragen wird, während Hedwig und ihr neuer Ehemann Yitzhak vor einem enorm kleineren Publikum ihre Lebensgeschichte erzählt.
Es ist ein Stück, dass – uraufgeführt 1998 in New York – immer wieder anders sein kann und dieses auch muss. Das ist von John Cameron Mitchell (Buch und Hedwig bei der Uraufführung) und Stephen Trask (Musik und Texte) so auch ausdrücklich gewünscht. So äußert sich Hedwig in Frankfurt über „Äbbelwoi“ und abfällig sogar über Offenbach und erweckt so noch mehr die Illusion, dass man Teil eines einzigartigen Konzerts ist.
Ausdrucksstark und kraftvoll gibt Michael Kargus hier die Rolle der Hedwig zum Besten, singt mal gefühlvoller („Wo die Liebe entstand“, „Wicked little town“) und dann wieder wild und aggressiv („angry inch“, „Exquisite corpse“) den Großteil der Songs des Abends. Die Texte zwischen den Songs werden so präzise und scharf pointiert, dass man ihm die Rolle bis zum Schluss ohne Probleme abkauft. Und wie auch als „Conferencier“ in Cabaret in der Bar jeder Vernunft hat er auch hier keine Berührungsängste mit dem Publikum zu interagieren.
Ihm zur Seite steht Kathrin Hanak in der Rolle des Yitzhak, die in dem einzigen Song, den sie zur Gänze singen darf zeigt, was in ihr steckt und diesen stimmgewaltig rockt. Bereits beim ersten Auftritt auf der Bühne vor Beginn der Vorstellung muss man hier ganz genau hinschauen, um zu erkennen, dass es sich hier im eine Frau handelt und nicht um einen Mann. Jede Bewegung, jedes leichte Schmunzeln sitzt und wird durch einen leicht o-beinigen Gang und ein sehr gutes Make-Up (weil nicht als solches erkennbar) nur noch unterstützt.
Begleitet werden die Darsteller von der Band unter der musikalischen Leitung von Dean Wilmington, die dem Stück den richtigen Sound verpasst und manchmal mit mehr als nur den Instrumenten die Handlung unterstützt (z. B. einer geschüttelten Wasserflasche)
Dem Regisseur Thomas Helmut Heep ist es hier gelungen, authentische Charaktere in einer nahezu perfekten Illusion zu erschaffen, die die gut eineinhalb Stunden wie im Flug vergehen lassen.
Das Stück läuft noch bis zum 21.01.18 in der Brotfabrik in Frankfurt-Hausen, wo ab 22.10.17 alternierend auch Lucas Witzel die Rolle der Hedwig spielt. Ab Januar zeigt das junge Unternehmen dann „American Idiot“ in der Batschkapp. Tickets und Informationen sind hier (Hedwig and the angry inch) und hier (American Idiot) zu finden.