Hedwig (Sven Ratzke) ist eine Kunstfigur und sie lebt von der Aufmerksamkeit des Publikums. So ist es kaum verwunderlich, dass sie den großen Auftritt braucht, wenn sie die Bühne betritt. Hedwig and the Angry Inch, die Geschichte einer Ost-Berliner Drag-Queen, die skurriler kaum sein könnte. Hedwig, eigentlich geboren als Hansel Schmidt, entkommt den Zwängen der DDR indem sie nach einer eher desaströsen Geschlechtsumwandlung den Namen ihrer Mutter, also Hedwig Schmidt, annimmt und einen Luther, ihren amerikanischen Sugar Daddy heiratet. Zurück in Amerika lässt dieser sie jedoch sitzen und Hedwig landet einsam und allein in einer Wohnwagensiedlung mitten im Nirgendwo.
Einsam und allein am Fernseher erlebt sie den 9. November 1989. Während Deutschland wieder vereint ist, fühlt sich Hedwig zerrissener denn je. Sie ist auf der Suche nach ihrer Identität, ihrer zweiten Hälfte. Mit Gelegenheitsjobs hält sie sich über Wasser. Beim Babysitten im Hause von General Speck lernt sie dessen 17-jährigen Sohn Tommy kennen, dessen sie sich annimmt. Sie bringt ihm alles bei, was er über Musik wissen muss und macht ihn unter dem Künstlernamen Tommy Gnosis zum Popstar. Doch das Glück hält nicht lange. Tommy lässt sie sitzen und wird mit den Hits die Hedwig geschrieben hat zum Superstar. Hedwig, erneut allein und verzweifelt, beginnt mit einer zusammengewürfelten Band, den Angry Inch durch eben jene Städte zu touren, in denen auch Tommy spielt. Und so kommt es, dass Hedwig gemeinsam mit den Angry Inch und ihrem zweiten „Ehemann“ Yitzhak auf der Bühne des Berliner BKA Theater spielt, während Tommy große Hallen am anderen Ende der Stadt füllt.
In den 1990ern entstand Hedwig and the Angry Inch und fand 1997 zum ersten Mal den Weg auf die Bühne. Seitdem wurde das Off-Broadway-Stück unzählige Male aufgeführt. Hier zulande vielleicht am bekanntesten in der Broadyway Produktion von 2014 mit „How I met your mother“-Star Neil Patrick Harris als Hedwig. Aber auch auf deutschsprachigen Bühnen, wie in Linz mit Ricardo Greco in der Hauptrolle, fand das Stück Beachtung.
Sven Ratzke steht bereits zum wiederholten Male als Hedwig auf der Bühne. Bereits seit 2013 verkörpert er unter der Regie von Guntbert Warns immer wieder die schrille Chanteuse. Zusammen mit Maria Schuster als Yitzhak und den Angry Inch (Florian Friedrich, Christopher Noodt, Hans Schlotter, Jan Terstegen und Stefan Machalitzky) tourte er im November 2016 wieder mit Stationen in Hamburg und Berlin durch die Republik. Auf einzigartig fantastische und gleichzeitig verrückte Weise verkörpert er die abgehalfterte Diva, die immer noch auf der Suche nach sich selbst ist und den Schmerz, der ihr in der Vergangenheit zugefügt wurde, nicht hinter sich lassen kann, sondern von der dadurch verursachten Wut lebt. Ratzkes Stimme in Kombination den rockigen Sounds der Band kreieren eine einzige Atmosphäre, die zwischen Therapiesitzung und Rockkonzert schwangt, je nach Hedwigs Stimmung. In atemberaubend knappen Kostümen heizt er seinem Publikum durchgehend ein. Jedoch vor allem die erste Reihe „leidet“ unter Hedwig. Immer dann, wenn er die Treppen hinunter muss, tanzen will oder sonst wie geartete Unterstützung benötigt, ist vor allem das männliche Publikum gefragt. Der ein oder andere Herr hatte sicher anderes erwartet, aber nicht, dass Hedwig ihm einen Lapp-Dance spendiert. Thematisch berührt Hedwig sicher jeden auf die eine oder andere Weise. Der Erfolg, den Sven Ratzke und seine Mitstreiter mit Hedwig and the Angry Inch feiern, ist mehr als gerechtfertigt. Besonders in der intimen Atmosphäre des BKA Theater, wo das Publikum Teil des Geschehens ist, kommt das Stück einmalig gut zur Wirkung. Hedwig auf Siegeszug durch die Republik… ob es euch passt oder nicht!
Einen kleinen Einblick in die Show gibt es HIER!